Lebensweg
Dietmar Hesse
Ich sitze am See, schaue dem Schwanenpärchen zu, wie fürsorglich sie sich um den Nachwuchs kümmern, und überdenke in Gedanken meinen Weg. Den bereits Abgeschrittenen, den vor mir Liegenden und den, auf dem ich gerade wandele. In mich versunken lasse ich ein Blatt am Stiel zwischen den Fingern kreisen.
Es liegt eine wilde Zeit hinter mir, vollgestopft mit Spaß, Feten, rumhängen in Bars und heißen Touren auf dem Sozius von Daniels Harley. Rockerbraut wurde mir von früheren Freunden nachgerufen, wenn wir durch die Straßen kurvten. Beim mitternächtlichen Chillen am Tresen der Tankstelle ereilte mich die Hiobsbotschaft. Er hatte auf dem Weg zu uns einen schweren Unfall. Ein Typ in einem SUV sah ihn zu spät und konnte nicht mehr bremsen. Auf der Maschine hatte Daniel keine Chance. Peng, Crash, Dunkelheit!
Mir wurde schwarz vor Augen, ob dieser schrecklichen Nachricht. Ich holte gemeinsame Momente aus der Erinnerung wieder hervor. Die Fahrten über die Hügel durch den Sonnenschein, Abende bei Bier und Wein mit Freunden, sein von Herzen kommendes Lächeln. Immer, wenn ich ihm von meinen Ängsten erzählte, fing er nur schallend an zu lachen.
»Mir passiert schon nichts, ich brauche höchstens mal ne Wundsalbe, falls ich mich beim Schrauben verletze. Bin doch kein Milchbubi!«
Im Krankenhaus erfuhr ich nur, dass er im Koma liegt. Die Stationsschwester druckste zuerst rum, als ich ihr die Situation erklärte, sah bei dieser Auskunft sehr betrübt aus. Eine Woche später traf die schockierende Nachricht über unser Onlineportal ein. Aus! Er hatte den Kampf verloren. Ich sackte vor dem Monitor zusammen. Ab dem Moment verweigerte ich für lange Zeit jede Art von gesellschaftlichem Vergnügen. Klar, er war nicht mein Loverboy, aber er war ein guter Freund. Ich grübelte den ganzen Tag und im Job funktionierte ich, ohne nachzudenken. Kein Lächeln konnte zu mir dringen. Beim Frühstück verschüttete ich den Inhalt des Kaffeehaferls auf der Tischdecke, meine Konzentrationsfähigkeit ging gegen null. Innerlich fühlte ich mich ausgedörrt, Trockenobst eben.
Als ich einige Wochen später noch einmal zum Treff der Clique stieß, hörte ich, dass die Freizeitrocker feilschten, wie auf einem Sklavenmarkt. Wer bekam die Soziusbiene?
Ich stand auf, und verließ den Laden. Ich begann ein anderes Leben.
Der Schrei eines Vogels dringt laut in meinen Gedankenfluss. Benommen betrachte ich die Umgebung. Der See, das Geturtel der Schwäne um die Küken. Steif erhebe ich mich und beginne zu zittern. Es ist kalt, ich beschließe, daheim ein entspannendes Bad zu genießen. Unterwegs stoppe ich an einem einen Supermarkt, eine Flasche Prosecco besorgen. Auf dem Gang laufe ich fast in einen Einkaufswagen, den eine ältere Dame mittig platziert hat. Die stöbert am Grabbeltisch im Angebot von Bergstiefeln. Lächelnd stelle ich sie mir in den Stiefeln vor.
Daheim angekommen bereite ich alles für mein Wellnessbad vor. Duftkerzen auf dem Wannenrand, ein Sektglas, leise Musik im Hintergrund. Das E-Book mit einem Liebesroman lege ich griffbereit auf die Fensterbank. Dann lasse ich mir ein Schaumbad ein. Zauber des Orients steht auf der Flasche. Das klingt verführerisch.
Ich ziehe die Kleider im Schlafzimmer aus und betrachte mich im Badspiegel. Eine Hübsche, selbstbewusste Frau schaut mir entgegen. Ich lache sie an und steige langsam in die Wanne. Schon ein wenig entspannt und erfüllt von der wohligen Wärme des Wassers schenke ich mir Prosecco ein. Ich schalte den Reader an und genehmige mir einen kräftigen Schluck. Das wunderbare Aroma umschmeichelt prickelnd meinen Gaumen. Beim Lesen der ersten Zeilen lasse ich mich in ein anderes Leben entführen. Ab und zu am Glas nippend tauche ich immer tiefer ein in die Geschichte um Liebe und Intrigen, Zärtlichkeit und Geborgenheit.
Mir ist kalt. Ich fühle Streichelszenen und Wärme, doch ich friere. Was geschieht mit mir? Langsam dringt die Wirklichkeit wieder in mein Bewusstsein. Die Wanne, wie lange habe ich hier verzückt im Buch geschmökert? Ich steige tropfend aus, werfe mir den flauschigen Bademantel über und kuschele mich hinein.
Irgendwie mag meine Seele heute gerne in ferne Welten entfliehen. Erst die Vergangenheit, jetzt in eine Illusion. Sollte ich in der Nacht noch von einer grandiosen Zukunft träumen, wache ich morgen bestimmt mit einem großen Grinsen auf.
Das Leben ist etwas Wunderbares, da kann auch die Nachtcreme, die mich von der Ablage her anzugrinsen scheint, nichts dran ändern!